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 »BioArt und Ethik«
Seminar von Prof. Dr. Ralf Scherer
Sommersemester 2021 und Wintersemester 2021/2022
Auch im Sommersemester 2021 sowie im anschließenden Wintersemester nahmen an dem von mir angebotenen BioArt Seminar ca. je fünfzehn Studierende teil. Neben den naturwissenschaftlichen Grundlagen der Bio- und Gentechnologie behandelt das Seminar unterschiedliche künstlerische Positionen der Kunst mit lebender Ma- terie. Bei fast allen Arbeiten werden ethische Fragen direkt oder indirekt angesprochen.
Ethik fragt nach dem, was Leben ausmacht und wie es gelebt werden sollte. Ethik ist eine Reflexion über Zie- le des guten und richtigen Handelns – auch in der Kunst. Da Grenzüberschreitungen ein wichtiges Merkmal von Kunst sind, kommen Kunst und Ethik auf unterschiedli- che Weise miteinander in Berührung. Kunst kann durch ethische Fragen motiviert sein und gleichzeitig selbst einen ethischen Wert haben.
Die Prinzipien der Bioethik in der Medizin mit den bekannten Begriffen Selbstbestimmung, Patientenwohl, Schadensvermeidung und sozialer Gerechtigkeit sind nur teilweise auf den Kunstbetrieb anwendbar. Ein Rückgriff auf einen Diskurs über Kunst und Moral aus dem Be- reich der Ästhetik könnte hier weiterhelfen. Nach Nora Vaage1 scheint für die Beurteilung ethischer Fragen von Arbeiten der BioArt ein Konzept der Bioethik und der Moral in Betracht zu kommen. Für die Beantwortung ethischer Fragen werden in der Praxis im Wesentlichen drei Moraltheorien als Herangehensweise herangezogen: der Utilitarismus oder das Nützlichkeitsprinzip, die Deontologie oder das Pflichtprinzip und die Tugendethik.
Der Konsequenzialismus oder das Nützlichkeits- prinzip wurde von Jeremy Bentham2 im 18. Jahrhundert begründet: »Handle immer so, dass das größtmögliche Maß an Nutzen (Glück) für den Menschen entsteht.« Der Nachteil dieser Betrachtungsweise liegt in der Tatsache, dass aus dieser Maxime keine moralische Verpflichtung entstehen muss. Aus der Anwendung des Nützlichkeitsprinzips erfolgt im Wesentlichen eine ethi- sche Kosten-Nutzen-Rechnung. Man betrachtet nur die Folgen einer Handlung, die Motive der Handlung selbst sind jedoch unbedeutend. Im Extremfall hieße dies: Der Zweck heiligt die Mittel.
Die Deontologie und das sogenannte Pflichtprinzip mit dem kategorischen Imperativ nach Kant stellt die Maxime auf: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Die Anwendung dieses Prinzips ist nicht ungewöhnlich in religiös fundierter Bioethik, aber selten vertreten in der institutionalisierten Wissenschaft. Dies wiederum bedeutet, der Zweck heiligt niemals die Mittel.
In Situationen, in denen sich zwei Prinzipien zu wi- dersprechen scheinen, entsteht Ratlosigkeit. Die Ethik der Normen wird dann zu einer Ethik der Situation. Die Anwendung der Ethik in einer konkreten Situation ist eine Frage der Klugheit im Sinne von Aristoteles: »Klug- heit ist eine intellektuelle Tugend, die es ohne moralische
Tugend nicht gibt, sie ist das Wesen der menschlichen Natur selbst.«
Die Tugend ist die Frucht eines Dialogs zwischen natürlichem Verlangen, Neigung, Streben und der Ver- nunft, die durch Mäßigung dem natürlichen Verlangen begegnet.
Der brasilianische Künstler Eduardo Kac3 hat mit seiner Arbeit »Genesis« im Jahr 2000 bereits die ent- scheidende Frage gestellt, wie weit wir uns die Schöp- fung mit den heutigen Methoden der Bio- und Gen- technologie tatsächlich »untertan« machen dürfen. Er übertrug den Vers 28 aus dem Buch Genesis der Bibel (»Seid fruchtbar und mehrt euch! Erfüllt die Erde und macht sie euch untertan! Herrschet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über jedes Le- bewesen, das sich auf Erden regt!«) in eine vom Künstler und Wissenschaftlern geschaffene Gensequenz, die in das Genom von Bakterien integriert wurde. Im Rahmen einer Ausstellung konnten Besucher direkt oder über das Internet Strahler mit ultraviolettem Licht anschalten, die zu Mutationen in den Bakterien führen sollten. Nach der Ausstellung wurde das Genom der Bakterien reana- lysiert. Der Vers 28 war in seiner eigentlichen Botschaft noch erkennbar, auch wenn sich der Anfang und das Ende des Satzes infolge der eingetretenen Mutationen verändert hatte. Mit dieser Arbeit wird das altbekannte Bibelwort infrage gestellt und berührt so die zentrale Frage der Kunst mit lebender Materie: Dürfen wir alles machen, was wir können?
In einer weiteren Arbeit, GFP-Bunny, ließ Kac einem Albino-Kaninchen das grün fluoreszierende Protein GFP einbauen, wodurch Haut und Augen des Kaninchens unter Schwarzlicht grün geleuchtet hätten. Kac wollte dieses Tier in seiner Familie in Chicago leben lassen, um zu zeigen, dass er für seine Schöpfung bereit war, Verantwortung zu übernehmen. Doch das Labor, welches das Kaninchen erzeugt hatte, verweigerte die Übergabe des Tieres an Kac, dem es dennoch gelang, mit diesem Kaninchen eine weltweite Diskussion über die ethischen Grundlagen von genetischen Eingriffen in Lebewesen in Gang zu setzen.
Christine Borland4 hat mit ihrer Arbeit »HeLa 2000« mit sogenannten HeLa-Zellen auf das Schicksal der Amerikanerin Henrietta Lacks aufmerksam gemacht. Dieser Frau waren kurz vor ihrem Tod 1951 ohne ihr Wis- sen Proben ihres Gebärmutterhalskrebses entnommen worden. Diese Zellen überlebten und vermehrten sich unter sehr einfachen Laborbedingungen, sodass diese Zellen zur ersten Zelllinie der Tumorforschung und Immunologie geworden sind. Diese Zellen sind weltweit käuflich zu erwerben, sodass heute mehr Zellen von Henrietta Lacks leben, als sich zu ihren Lebzeiten je in ihrem Körper befunden haben.
Die Familie erfuhr erst durch die Autorin und Jour- nalistin Rebecca Skloot5 von der Geschichte der He- La-Zellen. Die Veröffentlichung ihres Buches 2010 und die Verfilmung der Geschichte mit Oprah Winfrey 2017 sowie die Gründung der Lacks Family HeLa Foundation führte in den USA zu einer nachhaltigen Stärkung der Patientenrechte und im Oktober 2021 zu einer offiziellen Ehrung von Henrietta Lacks durch die WHO in Genf. Dies ist ein eindrucksvolles Beispiel, wie Christine Borland mit ihrer Arbeit eine Entwicklung in der medizinischen Ethik maßgeblich beeinflusst hat. Die Arbeit war nicht nur ethisch motiviert, sie hatte auch eine ethische Wirkung.




















































































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