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Martina Toeberg
»Season«
Im Foyer der Kunstakademie Münster steht aufrecht ein Vogelkirschenbaum, ausgegraben mit einem Teil des Wurzelwerks. Martina Toeberg beobachtete diesen Baum, der in unseren Breiten an Weg- und Waldrändern wächst, über ein Jahr lang. Fotografisch hielt sie dessen Wandlung von der Blüte bis zur laublosen Zeit des Win- ters fest. Dabei entwickelte sie eine intensive Beziehung zu der Pflanze, bekleidete diese und bestückte Stamm und Äste mit persönlichen Gegenständen.
Die Identifikation ging so weit, dass der Baum aus seiner natürlichen Umgebung, in enger Nachbarschaft mit anderen Bäumen und Sträuchern, entfernt und in der Ausstellungssituation an der Akademie isoliert aufgestellt wurde. Diese Handlung vergleicht die Künst- lerin mit ihrem eigenen Gefühl von Isolation innerhalb einer Gemeinschaft. Als symbolischen Heilungsprozess klebte Tina Toeberg Blätter, die sie im Herbst gesam- melt und getrocknet hatte, mit Pflaster an die leeren Winteräste. Manche der Blätter trugen aufgemalte Worte wie Einsamkeit, fallen, da sein, frei sein, Leben, Tod, Unendlichkeit, etc. Beim genauen Betrachten der Baumkrone fiel auf, dass neben den geklebten Blättern die Knospen an den Ästen prall gefüllt waren, um bald im Frühjahr wieder auszutreiben. Diese Gleichzeitigkeit von Absterben und Ins-Leben-Kommen irritiert, gibt aber zugleich Hoffnung.
Die Kirsche als Lebensbaum und Frucht der Liebe und der Unsterblichkeit wurde als eine Art »Objet trou- vé« zur Hauptakteurin der künstlerischen Arbeit.
Der gesamte Arbeitsprozess über ein Jahr war als Fotofries hoch oben an der Wand zu sehen. Das Aus-
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graben des Baumes mit Traktor und der Abtransport im weißen Transporter könnte auch als ein ironischer Kommentar zum zeitgenössischen Kunstgeschehen interpretiert werden.
Der Baum wurde nach ein paar Tagen in den ur- sprünglichen Lebensraum zurückgesetzt und »der Frühling entscheidet, ob dieser wieder Wurzeln fasst und weiterlebt«, wie Tina Toeberg schreibt.
Viele Künstler*innen beschäftigten sich mit der Wirkkraft von Bäumen, sei es Josef Beuys, der 7.000 Eichen in Kassel über Jahre pflanzen ließ und damit ein Statement für die ökologische Bewegung schuf. Oder Giuseppe Penone, der Bäume skulptural begreift und bearbeitet, bis manchmal nur das innere Skelett des Baumes erhalten bleibt. Liz Bachhuber verarbeitet vorgefundene natürliche Materialien vor Ort in Kom- bination mit kulturellen Artefakten zu einem poetisch visuellen Dialog und verweist auf spezifische historische Zusammenhänge. Ein wichtiger Referenzpunkt in Tina Toebergs Arbeit »Seasons« bildet Michael Sailstorfers filmisch festgehaltene Langzeitperformance der Em- scher Kunst 2013 »Antiherbst«, wobei herbstliche Blät- ter grün eingefärbt und wieder am Baum fixiert wurden.
In Tina Toebergs Beziehung zu der Vogelkirsche schwingt eine starke persönliche Bindung mit und sie lässt uns an ihrer ästhetischen Faszination dem Ge- wächs gegenüber teilhaben. Irene Hohenbüchler
Martina Toeberg Geboren 1976 in Düsseldorf. Seit 2020 an der Kunstakademie Münster. Studierte bei Prof. Irene Hohenbüchler. Seit 2022 Meisterschülerin.
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  18   01   2022
        




















































































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