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  »Open Frame«
Postdisziplinäre Denkplattform für Kunststudierende
Die von Prof. Dr. Nina Gerlach und Stefan Hölscher ins Leben gerufene offene Denkplattform »Open Frame« bietet Studierenden jedes Semesters die Möglich- keit, Vorträge zu selbst gewählten Themen zu halten, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen aus anderen Disziplinen kennenzulernen und so neuen Perspektiven auf die Kunst und auf gesellschaftliche Phänomene zu begegnen. Man könnte den Charakter der Veranstaltung als postdisziplinär bezeichnen, denn die Beteiligten ver- suchen, sich auch jenseits von Disziplinzugehörigkeiten im offenen Diskursraum argumentativ wie ästhetisch einem Thema anzunähern. In diesem Sinne widmete sich die Veranstaltung aktuellen Krisen, gesellschafts- politischen Phänomenen und künstlerischen Positionen.
Nachdem in der einführenden Sitzung noch Zeit blieb, sich zur aktuellen Hochschulpolitik auszutau- schen, gab uns Marie Rosenkranz einen Einblick in ihre Forschung zum Verhältnis von Kunst und Aktivismus. Sie promoviert bei dem Soziologen Andreas Reckwitz an der HU Berlin, beschäftigt sich mit der Verschränkung von Kunst, Politik und aktivistischen Strategien sowie daraus resultierenden Neubestimmungen von Autono- mieansprüchen der Kunst einerseits und politischen Wirksamkeitsansprüchen andererseits.
Der Schriftsteller Amoz Oz hat einmal gesagt: »Wird ein Mensch Schriftsteller, dann wird er Schriftsteller aufgrund einer Wunde, die man ihm als Kind, Jugendli- cher, Mädchen oder junger Frau zufügte.«1 Die künstle- rische Examensarbeit von Rabia Caliskan mit dem Titel »Wenn es wehtut, ist man wach« beschäftigt sich mit diesen Wunden. Erzählerisch und poetisch werden sie of- fenbart, treffen die Lesenden, die in eine Beziehung mit dem Gelesenen und dem Geschriebenen hineingezogen werden. Der Vortrag als eigenständige Erzählperfor- mance ließ diesen Zusammenhang zum Ausgangspunkt für ein Gespräch über Literatur in der Kunst und die Bedeutung solcher Wunden werden.
Prof. Dr. Jaqueline Berndt führte uns in die Kunst des Manga und die zugehörigen kulturellen Kontexte ein. Als zentraler Bestandteil japanischer Gegenwartskultur spielen sie im Alltag als Unterhaltung, in der Kulturdi- plomatie und als wissenschaftlicher Untersuchungs- gegenstand eine zentrale Rolle. Berndt zeigte auf, wie Mangas unter zeitgenössischen Bedingungen definiert werden können, wie sich ihr Bezug zu alten Schriftme- dien wie den Schriftrollen darstellt und wie sich die Art ihres Gelesen- und Geschautwerdens im Laufe der Zeit verändert hat.
In der darauffolgenden Woche verschlug es uns in den Westfälischen Kunstverein in die Ausstellung »Ultimate Vatos: Force & Honneur« der französischen Künstlerin Sara Sadig. Auf einem riesigen Bildschirm war dort das animierte Video einer als männlich lesbaren Person zu sehen, die über eine Insel läuft. Sie überwindet Hindernisse, bewegt sich zielgerichtet und gleichzeitig ohne ein wirklich einsehbares Ziel oder Ende. Die Arbeit
warf Fragen nach gesellschaftlich vorgelebten Männ- lichkeitsbildern sowie damit verbundenen Ritualen im Sport und beim Militär auf, die zum einen offenbar eine Renaissance erfahren, andererseits zunehmend absurd und gestrig erscheinen.
»Alte Neubauten«, unter diesem Titel stellte Simon Mehling seine künstlerische Arbeit vor. Aus gefundenem Material, alten Brettern, Rohren, Stahlstangen baut er Architekturen: eine zum Transport geschnürte Kirche, ein Haus, plastische Gebilde, die bis über das Dach der Akademie reichen. Oder er setzt neues Baumaterial ein, um auf einer heimischen Wiese ein zweites Geschoss auf einen verfallenen Schuppen zu setzen. Seine über- raschenden, manchmal auch gewaltigen Skulpturen forderten unseren Blick und unser Verständnis von Architektur, von Sich-Einrichten, Heimischwerden und Zuhause heraus. Das üblicherweise Versteckte, Innere der Konstruktion wird dabei oft nach außen gekehrt.
»Man kann vielleicht nicht von der Kunst, aber mit der Kunst leben«, mit diesem Satz war Saskia Niehaus, ehemalige Studentin der Kunstakademie, Stefan Höl- scher besonders in Erinnerung geblieben. Anlass, sie einzuladen und zu fragen, was aus diesem Satz zwanzig Jahre später geworden ist. Saskia Niehaus lebt in Köln als freie Künstlerin, mit der Kunst aber auch von ihr. Sie berichtete uns von Orientierungen nach dem Studium, von ihrer künstlerischen Arbeit auch als (Lohn-)Arbeit und welche Fragen sie in Kunst und Leben gegenwärtig umtreiben.
Die darauffolgende Sitzung war gänzlich dem freien Austausch gewidmet. Was könnte sich hochschulpoli- tisch verändern? Wo sehen Studierende Probleme und produktive Möglichkeiten? Wie sehen Studierende die Organisation des Rundgangs und könnten hier neue For- mate ausprobiert werden? Hier öffnete sich ein Raum jenseits fester Gremien oder Sitzungen, in dem der freie Austausch von und über Sichtweisen möglich war.
Unter dem Titel »Grenze und Possessivpronomen« bildete der Beitrag der Studentin Masako Kato den Abschluss der Open-Frame-Reihe im Sommersemester. In einer deutsch-japanischen Lecture führte sie in ihre künstlerische Arbeit ein, die sich dem Überschreiten von Grenzen, ihrer diskursiven wie materiellen Konsistenz sowie deren auch körperlicher Aushaltbarkeit widmet. Sprachbarrieren, eine Reise mit dem Boot von Münster nach Kopenhagen, ein digital gezeichneter Spaziergang von hier bis Japan – ihre Arbeiten umkreisen und zielen auf das Thema der Grenze, eröffnen aber doch zugleich eine Hoffnung, eine Utopie des »Jenseits«, der möglichen Grenzüberschreitung, des Internationalen, der Akzep-
  tanz sprachlicher Vielfalt.
Tonio Nitsche
1Amoz Oz im Interview in: Queda, Yair, Amoz Oz. Das Gewissen Israels, IL 2020, Online-Video, 00:58:00 Min., hier Min. 00:04:52 – 00:05:05, Arte/ YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=EseqLXQk2vY, Zugriff am 01.11.2022.
 



















































































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