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»Working on a
Queer Future«
Zeitgenössische Perspektiven transdisziplinärer Gender- und Queertheorie. Eine Kooperation zwischen »Open Frame» und der Steuerungsgruppe gegen Machtmissbrauch. Unter der Leitung von Dr. des. Simon Vagts, Prof. Dr. Nina Gerlach und Stefan Hölscher im Hörsaal der Kunstakademie Münster
Die »Open Frame«-Vortragsreihe im Wintersemester 2022/2023 fand in Kooperation mit der Steuerungs- gruppe gegen Machtmissbrauch statt und fokussierte sich thematisch auf Fragen zum Thema »Gender und Sexualität«. Unter dem Titel »Working on a Queer Fu- ture« wurden somit Forschungsstände aus verschiede- nen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Medien- und Kommunikationswissenschaft präsentiert und diskutiert.
Die eingeladenen Sprecher*innen arbeiten sowohl in wissenschaftlichen Kontexten als auch in Kulturbe- trieben. Dementsprechend breit stellte sich das Feld der Auseinandersetzungen dar. Besprochen wurden unter anderem die Repräsentation queerer Personen in der Boulevardpresse (Yener Bayramoğlu, Manchester Metropolitan University), die Geschlechterverhältnisse in zeitgenössischen Serienproduktionen (Elena Meilicke, Ruhr-Universität Bochum), die Notwendigkeit von Di- versität an universitären Einrichtungen (Zeynep Demir, Universität Bielefeld), die aufklärerischen Potenziale kuratorischer Arbeit (Elena Agudio, Villa Romana, Flo- renz / Kathy-Ann Tan, MHAS Berlin, freie Kuratorin) und erforderliche Aktualisierungen identitätspolitischer Terminologien und deren intersektionaler Bedingungen (Marquis Bey, Northwestern University). Zudem standen die künstlerischen Arbeiten James Gregory Atkinsons, der sich in seinem Werk intensiv mit der Konstitution von Männlichkeitsbildern beschäftigt, und der Film »Futur Drei« (Faraz Shariat, D 2020), der maßgeblich für die junge Bewegung des postmigrantisch-queeren Films im deutschsprachigen Raum ist und von Christian Weber, dem stellvertretenden Geschäftsführer des Filmverleihs »Salzgeber«, vorgestellt wurde, im Mittelpunkt.
Wesentlich für alle Projekte war eine Sensibilisie- rung für heteronormative Hegemonien und deren Refle- xion. Diese mündete in den zentralen Fragen nach der Beschaffenheit einer queeren Zukunft und wie der Weg hin zu einer inklusiveren Gegenwart aussehen könnte. Entscheidend war dabei vor allem die Bestimmung der Institution der Kunstakademie als diskursiver Ort, an dem gesellschaftliche Veränderung formuliert und an- gestoßen werden kann.
Die Vorstellung einer queeren Zukunft blieb dabei stets arbiträr. Dies entspricht aber nicht nur einem hy- pothetischen Konzept, sondern liegt, folgt man Marquis Bey, im Kern einer queeren Zukunftsarbeit: »To claim to know in advance would belie the aim, as we would only entrench what might be into the current logics we have
at our disposal. We don’t know, and that is okay. We just want something else, a something we do not know yet.«1 Eben jene Formen der Unterwanderung bestehender Logiken wurden aus verschiedenen Perspektiven be- leuchtet. Elena Agudio etwa legte ihren kuratorischen Projekten das Moment der Disruption zugrunde, das in einem »discomforting«, wie sie es nennt, resultiert. So sollten bestehende museale Infrastrukturen offengelegt und dekonstruiert werden. Für Rahul Rao fanden sich die Gegenbewegungen zu einem verheerenden Schulter- schluss von neoliberaler Finanz- und queerer Symbolpo- litik in erster Linie in ästhetischen Widerständen, die er in mehreren indischen Filmproduktionen ausmacht. Auch in den Studien zur deutschen und türkischen Boulevard- presse von Yener Bayramoğlu begegnen uns eben jene Guerillataktiken, die aus den homo- und transfeindlichen Artikeln ein Archiv queerer Lebensrealitäten erzeugen und so einen Bruch mit hegemonialen Machtstrukturen ermöglichen. Wer kontrolliert, was gedruckt wird, kon- trolliert noch lange nicht, wie es gelesen wird.
Münster hat eine tiefe queere Vergangenheit. Zu jener gehört, dass hier am 29. April 1972 die erste Schwulen-Demo Deutschlands stattfand, und zu ihr ge- hört der tödliche Angriff auf Malte C. auf dem »CSD« am 27. August 2022. Die Ringvorlesung stellte den Versuch dar, Räume zu öffnen, in denen vor dem Hintergrund die- ser historischen Kontexte neue Handlungsmöglichkeiten
ausgelotet wurden.
Simon Vagts
1Marquis Bey, Black Trans Feminism, Durham 2022, S. 65.
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