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 Michelle Hennig
»Achthundert­ fünfundvierzig«
19.01.2021
Der lichte, lange Ausstellungsraum beherbergt an den beiden sich gegenüberliegenden schmalen Wänden die zunächst minimalistische Gesamtheit der Arbeit von Michelle Hennig. Eine Anreihung von schwarzen und weißen Streifen verbindet sich zu einem überdimensio- nalen Barcode und nimmt die Fläche der einen Wand ein. Dieser Barcode türmt sich zusammen aus haptischen, wulstigen, sich überlagernden Collagen, von denen je- weils nur ein schwarzer Strich unbedeckt bleibt. Die gestalteten Collagen selbst sind nicht mehr sichtbar. Wird ein Handy mit seiner Scanfunktion vor die Collage gehalten, verbinden sich die überlappenden Arbeiten gänzlich miteinander. Ihre Materialität und Haptik lö- sen sich auf dem digitalen Bildschirm auf und das Wort »SOLD« erscheint.
Gegenüber besiedelt ein einzelnes Smartphone die andere Seite. Die Kleinheit des Bildschirms bezwingt den Betrachter und lockt zum Nähertreten. Chatverläufe öffnen sich innerhalb einer Videoarbeit. Jeden Schritt,
den man näher an den Bildschirm tritt, taucht man tie- fer ein in den surreal anmutenden digitalen Kunstmarkt von eBay-Kleinanzeigen. Michelle Hennig vertreibt dort ihre Kunst in skurrilen Verkaufsgesprächen mit absurd niedrigen Preisen. Darunter mischen sich Betrugsma- schen und Anfragen für Aktporträts. Es scheint unklar, ob die Interessenten humorvoll oder skrupellos sind. Ein gnadenloses Spiel, in dem weder klar wird, welche Rolle die eigentlichen Verkaufsobjekte einnehmen, noch wer am Ende als Gewinner oder Verlierer hervorgeht.
Der digitale, konstruierte, unwirklich scheinende Basar wirft in seiner hemmungslosen Direktheit die Frage an den realen, etablierten Kunstmarkt zurück, ob der Preis für ein Kunstwerk eine bloße und beliebige Konstruktion ist.
Pia Miriam Voß
Michelle Hennig
Geboren 1995 in Dortmund. Seit 2014 an der Kunstaka­ demie Münster. Studierte bei Prof. Henk Visch (2015– 2018) und Prof. Klaus Weber 2018–2021. Seit 2021 Meisterschülerin.
01 / Ausstellungsansicht: 30 sich überlappende Collagen (je 70 × 100 cm), Gesamtarbeit: 250 × 100 cm, 2021
 























































































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