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 »Open Frame«
Kolloquium, Denkplattform und Diskussionsraum mit Prof.in Dr. Nina Gerlach und Stefan Hölscher Sommersemester 2021
Nach einer zwei Semester langen Pause fand im Som- mersemester wieder das Kolloquium »Open Frame« statt, organisiert und ins Leben gerufen von Prof.in Dr. Nina Gerlach und Stefan Hölscher. Die Veranstal- tung gibt als Denkplattform und Diskussionsraum den Studierenden Gelegenheit, über ihre Interessen, ihre künstlerischen Arbeiten oder wissenschaftliche Projekte zu sprechen. Weiterhin bietet sie die Möglichkeit, Posi- tionen aus der Kunst sowie aus verschiedenen Wissen- schaften kennenzulernen und zu diskutieren oder auch eigenständig Gäste einzuladen.
Hinsichtlich der Realisierung als Videokonferenz noch eingeschränkt, bot die Veranstaltung aber wieder eine außerordentliche Breite an thematischen Beiträgen sowie künstlerischen Positionen. Auch die Corona-Pan- demie mit ihren großen gesellschaftlichen Spannungen wurde in einzelnen Beiträgen aufgegriffen, sodass hier ein Forum entstand, zentrale gesellschaftliche Heraus- forderungen unserer Zeit zu besprechen.
In einem ersten Beitrag sprach Prof.in Dr. Eva Sturm, freie Kunstvermittlerin in Praxis und Theorie aus Berlin, über die Produktivität des Unsinns. Der Vor- trag leitete sowohl das Open Frame-Seminar als auch das Seminar »UnSinn« ein, welches Frau Sturm dieses Semester gemeinsam mit Stefan Hölscher leitete. Sie fragte in ihrem Vortrag nach Möglichkeiten, Unsinn als etwas zu begreifen, das kunstpädagogische Situationen in Gang setzen und möglich machen kann. Beispiele aus Kunst, Philosophie, Literatur sowie kunstpädagogischer Praxis konkretisierten diese Überlegungen.
Anschließend lud uns Zauri Matikashvili ein, mit ihm seinen neuen Film »Corona Rebellen« (2020) zu schauen und zu diskutieren. Zum einen lernten wir sei- ne künstlerische Praxis kennen, in der er sich mit der Kamera politischen Geschehnissen zuwendet und sie den Zuschauer*innen ohne stilistische Eingriffe unge- schönt vor Augen führt. Die Sitzung bot zum anderen auch die Gelegenheit, auf ein Jahr zurückzublicken, das geprägt war von gesellschaftlichen Diskussionen um die Corona-Maßnahmen und, damit einhergehend, einer Zunahme von Populismus, Verschwörungserzählungen und Antisemitismus.
Hinter dem Namen »Working out loud« verbirgt sich ein z. B. in ökonomischen oder sozialen Kontexten verbreitetes Konzept selbstorganisierten Lernens in kooperativen Netzwerken. Die eigene Arbeit wird zum Nutzen aller sichtbar gemacht und zur Diskussion ge- stellt. Lisa Tschorn stellte sich und uns die Frage, welche Potenziale solche Konzepte in der künstlerischen Arbeit entfalten können, ob sie vielleicht sogar dem künstleri- schen Kontext besonders entgegenkommen oder wo sich hier Schwierigkeiten ergeben könnten.
Martin Steinfeld verhandelt in seiner Arbeit Themen wie Identität, Geschlecht und Sexualität mit performa-
tiven Mitteln. Er hat sich dafür eine andere Identität mit dem Namen Matrixa Pearson geschaffen, in deren Rolle er auftritt und das Kunstpublikum mit (Neu-) Aus- handlungen von Geschlecht konfrontiert. Durch die von ihm gestaltete Sitzung konnten wir an diesem Projekt teilhaben und damit in sein Denken und künstlerisches Arbeiten eintauchen.
Thomas Musehold, Alumnus der Kunstakademie Münster, lebt und arbeitet als freier Künstler in Düs- seldorf. Er berichtete von seinem Werdegang nach der Akademie, von seiner künstlerischen Weiterentwicklung, dem Umgang mit Künstlercommunities sowie über Mög- lichkeiten und Herausforderungen eines Berufslebens als freier Künstler.
Einen philosophischen Einblick in mögliche Antwor- ten auf die Frage, »Was es heißt, Kunst als menschliche Praxis zu begreifen«, gab uns Prof. Dr. Georg Bertram von der Freien Universität Berlin. Sein Ansatz bestand darin, von der nur unbefriedigend oder gar nicht zu be- antwortenden Frage »Was ist Kunst?« zu einer Lokali- sierung von Kunst in der Gesellschaft überzugehen. Dies führt schließlich zu der Frage, was es für menschliche Praktiken bedeutet, dass Kunst in ihnen eine Bedeutung hat. Schließlich mündete der Vortrag in der Idee, dass menschliche Praktiken in Bewegung sind und durch menschliche Impulse in Gang gebracht werden. Kunst kann hier als eine Gegenkraft oder reflexive Brechung menschlicher Praktiken verstanden werden, die unhin- terfragt bestimmten Regelsystemen gehorchen.
Von der Philosophie ging es weiter in die geistes- wissenschaftliche Soziologie und den Begriff des kapi- talistischen Realismus bei Mark Fisher, den uns Peter Volkhardt nahebrachte. Es ging um eine Perspektive, die gegenwärtige Produktionsprozesse in Großbetrieben ebenso wie kulturelle Erscheinungen in den Blick nehmen kann. Vorgestellt wurde ein kulturkritischer Ansatz, der große Begriffe wie Kulturindustrie, Neoliberalismus, Kapitalismus, Entfremdung neu anzuordnen versucht, auf die Gegenwart bezieht und dabei stets produktiv auf Alternativen hinzuweisen vermag.
Nach einer offenen Sitzung, wo wir gänzlich frei über Perspektiven nach der Akademie ins Gespräch kamen, fand in der letzten Sitzung eine Podiumsdiskussion mit dem Titel »Erinnern heißt...? Praktiken des Gedenkens und Kontinuitäten des Verdrängens« statt. Moderiert von Tonio Nitsche, diskutierten drei Gäste: Lea Wohl von Haselberg, Dozentin an der Filmhochschule Babelsberg, Svetlana Forer, Autorin, Regisseurin und Theaterpäda- gogin sowie Sharon Ryba-Kahn, Filmemacherin. Es ging um die Frage, wie in Zeiten wachsender Geschichtsver- gessenheit und Antisemitismus das Gedenken an die Shoah wachgehalten und dem Verdrängen entgegen- gearbeitet werden sowie was Erinnern und Gedenken aus Betroffenenperspektive heißen kann. Gleichzeitig lernten wir drei jüdische Blickwinkel auf die Geschichte kennen, die sich auf verschiedenen Wegen artikulieren: in der Wissenschaft, im Film sowie im Theater.
Das Programm zeigt, auf welch verschiedene Art und Weise sich ein thematisch offenes Kolloquium entfalten kann und welche Breite an Perspektiven aus Kunst, Kultur, Wissenschaft und mehr ein solches For- mat ermöglicht.





















































































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