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Doch schon für sein nächstes Projekt Inpotentia9 war die Ethikkommission in Perth nicht mehr bereit, der Verwendung von embryonalen Rattenneuronen zuzustimmen. Ben-Ary griff daher auf kommerziell ver- fügbare menschliche Vorhautzellen zurück, die er in in- duzierte pluripotente Stammzellen verwandelte, um sie anschließend in Nervenzellen weiter zu differenzieren. Die Aktivität dieser Zellen machte er über analoge Ver- stärker hörbar. Für den nächsten Entwicklungsschritt wollte er in der Arbeit cellF9 die spontane Aktivität der Nervenzellen mit Musikern interagieren lassen. Töne von Schlagzeug und Trommel beeinflussen über analoge Verstärker die Aktivität der Neuronen in der Petrischa- le. Auch hier stand für Ben-Ary die Lernfähigkeit seines externen Gehirns im Vordergrund. Abermals verweigerte die Ethikkommission die Verwendung von menschlichen Zellen, was Ben-Ary nur dadurch umgehen konnte, dass er seine eigenen Hautzellen in Nervenzellen verwandelte, was im Titel der Arbeit »cellF« anklingt. Das externe Gehirn des Künstlers als Rockstar in einer Petrischale, so sieht Guy Ben-Ary seine Arbeit.
Künstler haben somit Schwierigkeiten, ihre Projekte vor den von Wissenschaftlern besetzten Ethikkommissi- onen zu vertreten. Auf dieses Problem machte auch die britische Künstlerin Anna Dumitriu in ihrem Buch Trust Me, I am an Artist10 aufmerksam, indem sie fordert, dass künstlerischer Sachverstand in Ethikkommissionen ver- treten sein sollte, die über Kunstprojekte mit lebender Materie zu befinden haben.
Diese wenigen Beispiele zeigen, auf wie vielen un- terschiedlichen Ebenen ethische Fragen integraler Bestandteil künstlerischer Arbeit mit lebender Materie sein können.
Die Wissenschaft sorgt für die Fakten, die Künstle- rinnen und Künstler schaffen das Bewusstsein für diese Fakten. BioArt und Ethik gehören zusammen.
Prof. Dr. Ralf Scherer
1 Vaage NS: (2016) What Ethics for BioArt. Nanoethics 10: 87–105
2 Bentham J, Nash I, Seidenkranz R: (2016) Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung, Verlag Sening, Saldenburg, ISBN-10:3981584104
3 Kac E: www.ekac.org (aufgerufen16.11.2021)
4 Adele Senior: (2011) Haunted by Henrietta:
The Archive, Immortality and the Biological Arts, Contemporary Theatre Review, 21:4, 511-529, DOI:10.1080/10486801.2011.610306
5 Skloot R: http://rebeccaskloot.com
6 Levinas E: (2012)Die Spur des Anderen, Untersu- chungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Verlag Karl Alber, Freiburg
7 Jonas H (1979): Das Prinzip Verantwortung: Ver- such einer Ethik für die technologische Zivilisation. Neuauflage als Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 8 Zylinska J: (2009) Bioethics in the Age of New Media. The MIT Press, Cambridge
9 Ben-Ary G: http://guybenary.com/work (aufgerufen 16.11.2021)
10 Dumitriu A, Farsides B: (2014) Trust me, I’m
an Artist: Towards an Ethics of Art and Science Collaboration. p.5 ISBN: 978-13200 97406. Blurb Inc.
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 Da die Arbeiten der BioArt in enger Zusammenar- beit mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen entstehen, müssen die Künstlerinnen und Künstler ihre Ideen vor den in der Wissenschaft bereits überall etab- lierten Ethikkommissionen vertreten. Diese sind meist neben der bereits erwähnten medizinischen Ethik von den Moraltheorien des Utilitarismus nach Benthem und Mill2 aus dem 18. Jahrhundert geprägt. Der Utilitarismus, eine ethische Kosten-Nutzen-Rechnung, ist die in den wissenschaftlichen Einrichtungen in den USA und im englischsprachigen Raum die am häufigsten vertrete- ne Moraltheorie. In Europa tendiert man eher zu einer Ethik, die sich auf die Tugendphilosophie von Aristoteles oder modernen europäischen Philosophen wie Emmanuel Levinas oder Hans Jonas bezieht. Gemäß den Ideen von Emmanuel Levinas6 sind wir Menschen immer aufgeru- fen, Verantwortung zu übernehmen für den anderen, das andere Lebewesen oder das andere schlechthin – auch eine Maschine.
Hans Jonas7 ist der andere wichtige Vertreter einer Verantwortungsethik. In seinem Buch Das Prinzip der Verantwortung von 1979 formuliert er in Anlehnung an den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant den so- genannten Ökologischen Imperativ: »Handle stets so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde.«
Da es absolute Sicherheit in der Abschätzung kom- plexer Technikfolgen nicht geben kann, empfiehlt er nach der Heuristik der Furcht immer die schlechtere Prognose der besseren vorzuziehen, um zu vermeiden, dass Risiken nicht angemessen berücksichtigt werden. Dieser Impera- tiv soll den Anspruch auf eine Permanenz menschlichen Lebens sichern.
Angesichts der Tatsache, dass die künstlerisch-wis- senschaftlichen Projekte der BioArt überwiegend in von Ethikkommissionen begleiteten und geschützten Einrich- tungen realisiert werden, könnte sich aus dieser Heuris- tik der Furcht der mit ihr verbundene Pessimismus als unnötiger Hemmschuh für die Kreativität künstlerischen Wirkens erweisen.
Joanna Zylinska8 dehnt ihren Begriff einer nicht nor- mativen Ethik der Verantwortung auch auf andere Formen von Leben aus, sogar solche, die wir noch nicht kennen.
Guy Ben-Ary9 nutzt für verschiedene Installationen Nervenzellen, die auf einer sogenannten Multielectrode- Array-Platte wachsen und deren elektrische Aktivität er abgreift und sichtbar oder hörbar macht. Sein Ziel ist es, die spontane Aktivität der Nervenzellen durch Stimuli von außen zu modulieren, um mit dieser Art künstlerischer Forschung die Lernfähigkeit seiner »semiliving-objects« zu erproben.
Für seine Arbeit MEART9 verwendet er 2002 Nerven- zellen von Rattenembryonen. Mechanische Zeichenarme übertragen auf Papier die elektrische Aktivität der Neu- ronen. Die Aktivität der Neuronen wird moduliert durch elektronische Bilder, die von einer Kamera aufgenommen werden. Die Verwendung von embryonalen Rattenneuro- nen stellte offenbar 2002 kein Problem für die Beteiligten wissenschaftlichen Laboratorien in Perth, Australien und Atlanta, USA, dar.
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W E R K S T Ä T T E N
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