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  Salomé Berger
»Die Grand Tour« Reisestipendium
Aus Mitteln der Qualitätsverbesserungskommission können zwei (Reise-)Stipendien in Höhe von maximal je 2.500 Euro pro Jahr vergeben werden. Die Entschei- dung wird von einer Professor*innen-Kommission getroffen. Die Grundidee des Stipendiums ist es, den Studierenden eine andere Form der anschaulichen Auseinandersetzung mit Orten, Kulturen und künst- lerischen Szenen zu ermöglichen. 2022 reiste Salomé Berger nach Italien.
Die Grand Tour oder auf Goethes Spuren zu wan­ deln, so ähnlich kann man mein Vorhaben beschreiben, über die Alpen zu wandern und anschließend über Mai­ land, Florenz und Rom bis nach Neapel zu gelangen. Schon ganz zu Beginn der Reise lehrte mich das Un­ terwegs­Sein etwas Grundsätzliches: Nicht zu viel zu planen, sondern (auch) geschehen lassen. Das Wetter machte nach einem perfekten Sommer am 17. August 2022 kehrt und somit konnte ich meine Alpenüberque­ rung nur über einen statt drei Pässe machen. Noch nie zuvor war ich im Grimselgebiet (Berner Oberland), obwohl meine Heimat nicht weit davon entfernt liegt. Es war beeindruckend, auf dem alten Säumerpfad ent­ langzuwandern, wo seit Jahrhunderten reger Handel und »Verkehr« stattfindet. Neben mir brausen Motorräder und Autos vorbei, je näher ich der Grimselstaumauer komme, desto näher kommen mir die aktuellen The­ men: erneuerbare Energien, Wasserkraft, aber auch Umweltschutz, Artenvielfalt. Die Übernachtung auf der Passhöhe wird ein erstes Highlight, der Totensee, die unberührte Natur, der man begegnet, wenn man den Weg Richtung Obergesteln (Wallis) einschlägt. Anstatt weiter über den Griess­ und Basòdino­Pass zu wandern, schlage ich meine Zelte in Leukerbad auf. Die Natur ist berauschend, die Stille wunderbar, aber es wird mir auch unbehaglich. Wo ist bloß der Tälligletscher hin? Der letzte weiße Fleck, das kann man unmöglich als Gletscher bezeichnen.
Über Brig fahre ich nach Mailand, von der abge­ schiedenen Bergwelt in das pralle Stadtleben einer für mich, außer dem Bahnhof, unbekannten Stadt. Mein Hostel liegt direkt an den Navigli, einem alten Kanalsys­ tem, über das damals der Marmor des Doms direkt von Como hierher verschifft wurde. Die Pinacoteca di Brera mit ihren wunderbaren Werken von Andrea Mantegna, Francesco Hayez und weiteren erschütterten mich richtiggehend. Diese Arbeiten endlich mal »in echt« zu sehen, war eine Offenbarung und ein Vorgeschmack auf das, was mich in den nächsten Wochen erwarten würde. Sprachlos stand ich vor diesen Gemälden, welche mich und meine Arbeit nachhaltig beeinflussen. Auf dem Dach des Mailänder Doms zu stehen und kurze Zeit später in der Mailänder Scala: ein berauschendes Gefühl. Fulmi­ nant beeindruckend waren ebenfalls die Sammlungen des Palazzo Reale, der Galerie d’Italia und der Galerie
d’Arte Moderna. Ein Abstecher führte mich in den Bota­ nischen Garten von Brera. Unentwegt fotografiere ich, um neuen Input für mich und meine Arbeit zu sammeln, die meistens auf Basis einer Collage aus selbst gemach­ ten Fotos fußt. Bevor ich meine Weiterreise nach Genua startete, warteten weitere Höhepunkte auf mich: der Besuch von Leonardos letztem Abendmal in der Santa Maria della Grazie. Ich ergatterte Wochen vorher eines der begehrten Tickets und ein weiteres Mal stand ich sprachlos vor einem Meisterwerk. Ebenfalls tief beein­ druckt hat mich Michelangelos letztes Werk, die Pietà Rondanini.
Tief bewegt trat ich meine Weiterreise nach Genua an und dort überraschte mich ein unfreundliches, einem Verlies gleichendes Hotel, in dem ich mich ganz und gar nicht wohlfühlte. Obwohl die Stadt mit ihren engen, ver­ winkelten Gässchen und mit ihren großen Palazzi voller Geschichte und Schönheit ist, bin ich nicht so richtig warm geworden mit ihr. Deshalb freute ich mich umso mehr, als ich in La Spezia an der ligurischen Küste in ei­ nem herzlichen, kleinen Hostel eintraf. Nach sechs Tagen Großstadt war mir der Sinn nach Natur und Wandern. Gleich am nächsten Tag packte ich meinen Rucksack und fuhr nach Levanto und wanderte von dort über Monterosso und Vernazza nach Corniglia. Zwar ließ mich der Muskelkater am nächsten Tag ordentlich jaulen, aber die duftenden Wälder, die spektakuläre Sicht auf Klippen und Küstenabschnitte und die vor mir liegenden Dörfer entschädigten mich dafür. Nasses Vergnügen und Sonnenuntergänge in Manarola und Portovenere, Pesto al Troffie in Lerici, es gab viele magische Momente.
Am 30. August 2022 traf ich in Florenz ein, eine Stadt, die ich bisher nur für einen Tag besucht hatte. Die zahlreichen Highlights aufzuzählen ist schwierig, denn jede Kirche, jedes Museum bietet die spektakulärsten Arbeiten überhaupt. Eine Offenbarung waren die beiden Pontormo­Bilder in den Kirchen Santa Felicita und San Michelle Visdomini. Neben den großartigen Uffizien und der Galeria d’Accademia besuchte ich u. a. die Cappella Brancacci mit den Fresken von Masolino und Masaccio. Die Capelle Medici und das Baptisterium verschlugen mir ein weiteres Mal die Sprache. Es ist schlicht unglaublich, was Florenz zu bieten hat, mal ganz abgesehen von die­ ser warmherzigen Stadt, eingebettet in die wunderbare toskanische Landschaft.
Meine Weiterreise führte mich nach San Gimig­ nano, ein mittelalterliches Städtchen im Herzen der Toskana. Als ich aus dem Bus stieg, überkamen mich die Tränen, die Schönheit dieser Landschaft berührte mich ungemein. Auch meine Unterkunft ließ keine Wünsche offen, nach etlichen 6er­Bett­Hostels hatte ich über­ raschenderweise ein riesiges Zimmer für mich allein in einem wunderschön gelegenen Agriturismo mit direktem Blick in die Landschaft. Hier fand ich die Ruhe, die ich mir schon sehr lange gewünscht hatte, hier konnte ich Aquarelle malen, durch die Olivenhaine und Rebstöcke streifen. Ein kurzes Stück wanderte ich auf der Via Francigena, dem Pilgerweg, der von Canterbury nach Rom führt und San Gimignano durchquert.
   

























































































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