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  »BioArt«
Ein Treffpunkt von wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung in Münster. Seminar von Prof. Dr. med. Ralf Scherer
Zu Zeiten Leonardo da Vincis bildeten Wissenschaft und Kunst eine Einheit. Die rasante Entwicklung der Natur- wissenschaften hat bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dazu geführt, dass große Teile der Bevölkerung immer noch glauben, dass die Wissenschaften für die Wahrheit und die Künste für das zuständig waren, was wir für Schönheit halten.
Eine Wiederannäherung der beiden Disziplinen ist seit etwa dreißig Jahren zu beobachten. Die Wissen- schaft kümmert sich um die Fakten und die Kunst schafft das Bewusstsein für diese Fakten. Dabei haben beson- ders die Wissenschaften von einer Zusammenarbeit mit der Kunst profitieren können, da sie einen Zugang zu Er- kenntnissen ermöglicht, der den Wissenschaftler*innen ohne die Begegnung mit der Kunst verborgen geblieben wäre. In seinem Artikel zu diesem Thema in der F.A.Z. vom 26. September 2018 zitiert Joachim Müller-Jung den Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten, der vor über zweihundert Jahren geschrieben hat: »Mit Hilfe der Kunst können wir Aspekte der Welt erkennen, für die es keine Begriffe gibt, für die wir also ohne Kunst kein Bewusstsein hätten«.
Seit dem Sommersemester 2018 findet an der Kunstakademie eine Seminarveranstaltung zum Thema »BioArt« statt. Zwischen sechs und fünfzehn Studieren- de nehmen an dem von Prof. Dr. med. Ralf Scherer ange- botenen Seminar teil, was ein nachhaltiges Interesse an diesem Thema belegt. In diesen Seminarveranstaltungen werden die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Bio- und Gentechnologie vorgestellt, verbunden mit der Präsentation von künstlerischen Positionen, bei denen ebendiese Techniken zur Anwendung kommen. Vor der Pandemie hatten die Teilnehmenden vier Semester lang auch Gelegenheit, im Institut für Medizinische Mikro- biologie, im Institut für Biologie und Biotechnologie der Pflanzen sowie im Max-Plack-Institut für Molekulare Biomedizin die praktische Arbeit im Labor hands on kennenzulernen. Ab dem Sommersemester 2022 war glücklicherweise erneut eine praktische Tätigkeit mit dem Pflanzenbiologen Michael Gasper wieder möglich [Abb. 01 und 02].
Ein zentrales Anliegen von Prof. Scherer ist in die- sem Seminar, die verschiedenen Ebenen des Dialogs zwischen Wissenschaft und Kunst aufzuzeigen.
Das Zusammenwirken von Wissenschaft, Politik und Industrie hat Michel Foucault 1977 in seinem Buch »Wille zum Wissen«1 entwickelt und als »le biopouvoir« (Biopower) bezeichnet, um eine neue Art von Machtme- chanismus im 18. Jahrhundert zu beschreiben: »Gesund- heit und Wohlbefinden der Bevölkerung werden sich zum essenziellen Ziel politischer Macht entwickeln.«
Gerade in Zeiten der Pandemie erscheint die bio- technologische Industrie vielfach als »Heilsbringer« und erhält in nie dagewesener Weise staatliche Förderung.
Gleichzeitig erleben Teile der Bevölkerung die dynami- sche Entwicklung des von der Wissenschaft generierten Wissens als verwirrend und das erzeugt Unsicherheit. Diese Verwirrung entsteht zum größten Teil durch Un- wissenheit bezüglich der wissenschaftlichen Grundlagen in den modernen Biowissenschaften und deren Denkwei- se und Sprache. Guter Wissenschaftsjournalismus in der Breite der Medien ist eher die Ausnahme als die Regel, was die Verwirrung weiter unterhält.
Somit soll dieses Seminar die Studierenden er- tüchtigen, sich mit diesen zentralen Themen unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen. Sie sollen erkennen, welchen Einfluss die Biopower auf unser Leben nehmen wird, neben dem Klimawandel und seiner Beherrschung. Die Studierenden lernen, die Arbeiten der »BioArt« kri- tisch zu bewerten, um eine eigene, qualifizierte Meinung zu Möglichkeiten und Grenzen der Bio- und Gentechno- logie zu entwickeln. So können sie als Kunstschaffende am gesellschaftlichen Diskurs aktiv teilnehmen.
In den Diskussionen mit Prof. Scherer tauchte öfter die Frage auf, ob nicht nur die Kunst von der Wissen- schaft profitiert. Neben dem schon erwähnten Zitat von Alexander Gottlieb Baumgarten hat auch in unse- ren Tagen die Wissenschaft von der Kunst profitiert: Joe Davis hat mit seiner Arbeit »Microvenus«2 einen entscheidenden Impuls für die biologische Datenspei- cherung gegeben und Oron Catts und Ionat Zurr gelten mit ihrer Arbeit »Disembodied Cuisine«3 als Wegbereiter der Forschung um Fleisch aus dem Labor.4
Wenn sich wissenschaftliche und künstlerische For- schung begegnen, entsteht neben zusätzlichem Wissen auch noch Verstehen. Eine auf Verstehen basierende Forschungskultur in Wissenschaft und Kunst wäre ei- nem wahrhaft humanen Menschenbild würdig. Ein auf Verstehen basierendes Bildungssystem wäre weniger anfällig für eine Vereinnahmung durch kurzsichtig funk- tionalistisches Verwertungsdenken der Marktwirtschaft und Forschungspolitik.5
Die Mitarbeit von Künstler*innen im Labor lässt die Wissenschaftler*innen ihre tägliche Arbeit unter einem anderen Blickwinkel sehen, die alltäglichen kreativen Prozesse im Labor erfahren eine größere Würdigung. Nach Yetisen und Davis6 wird die Rolle der »BioArt« als Kritik und als Anwendung der Wissenschaft zweifellos fortbestehen, vielleicht ist aber ein viel tiefergreifend bedeutsamerer, wenn auch weniger anerkannter Beitrag der »BioArt« ihre Fähigkeit, der Wissenschaft zu helfen, sich selbst zu verstehen.
Auf diese Weise kann die »BioArt« eine wichtige Transmitterfunktion erfüllen, diese Kunst aus den Wissenschaftszirkeln herauszutragen in eine größere interessierte Öffentlichkeit.
In Deutschland wird das Thema Kunst mit lebender Materie außer an der Kunstakademie Münster nur im Fachbereich Medien an der Bauhaus Universität Weimar durch Prof. Ursula Damm (https://www.uni-weimar.de/ gmu) (gmu: Gestaltung medialer Umgebungen) sowie an der Kunsthochschule für Medien in Köln mit dem Fach- seminar Hands-on-Biomedia-Einführung in die Arbeit
   



















































































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