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 »Methodische und methodologische Zugänge zur Leib- gebundenheit des Forschens in der Professionsforschung und Lehrer*innen- bildung«
Tagungsbericht zum 12. Internationalen Kunstpäda- gogischen Forschungskolloquium der Kunstakademie Münster in Kooperation mit dem Netzwerk der Vignet- ten- und Anekdotenforschung (VignA). 05.02.2021–07.02.2021
Wir sind Leib und haben einen Körper: Dieses Ver- ständnis von Leiblichkeit »jenseits eines objektivis- tischen oder materialistischen Körperverständnisses« ist »aufs engste mit der Kategorie der Erfahrung ver- bunden« (Call, S. 1), die nicht ohne sinnliche Wahr- nehmung auskommt.
Das 12. Internationale Kunstpädagogische For- schungskolloquium fand vom 5. bis 7. Februar 2021 an der Kunstakademie Münster im virtuellen Raum statt und fragte nach methodischen und methodologischen Zugängen, die die Leibgebundenheit des Forschens, insbesondere im Bereich der Professionsforschung, in den Blick nehmen und damit thematisch und reflektier- bar machen. In Zusammenarbeit mit dem VignA-Netz- werk wurde das Forschungskolloquium von Birgit Engel (Kunstakademie Münster), Tobias Loemke (HKT der HfWU Nürtingen), Kerstin Hallmann (Universität Os- nabrück) und Evi Agostini (Universität Wien) konzipiert und organisiert. Es kennzeichnete sich durch eine in- haltliche Vielfalt der Beiträge und Diskussionen zum übergeordneten Tagungsthema der Leibgebundenheit des Forschens.
Erinnerungsbilder und Vignetten in der kunstpäda- gogischen Lehrerinnen- und Lehrerbildung
Birgit Engel und Kerstin Hallmann stellten in ihrem Eröffnungsbeitrag grundlagentheoretische Annahmen phänomenologischer Forschungsperspektiven und die Methodologie der »Erinnerungsbilder« (Engel) vor, die von Studierenden im Anschluss an Hospitationen oder erste eigene Erprobungen im Kunstunterricht verfasst werden und eine professionsorientierte Grundlage zur Reflexion eigener Erfahrungen bilden. Erinnerungsbilder entstehen im Rückblick auf »besonders prägnante oder irritierende Wahrnehmungsmomente«, die im Schreiben vergegenwärtigt werden. Um diesen Reflexionsprozess als bildende Erfahrung der Lehramtsstudierenden zu
fördern, gehe es darum, die Spannung zwischen Bild/ Sinnlichkeit und Begriff/Sprache zu halten. Erinne- rungsbilder tragen method(olog)isch zu einer Annähe- rung an das empirische Feld der Praxiserfahrungen bei und unterstützen eine Verbindung von Praxisbezug und Reflexion. Insbesondere leiblich fundierte Erfahrun- gen werden so mitteilbar und in theoretisch fundierte Analysen eingebunden. Im Reflexionsprozess, der von der Erzählung ausgeht, sind Zurückliegendes und Vo- rausweisendes verbunden, beides ist laut Engel und Hallmann von zentraler Relevanz für kunstpädagogische Professionalisierungsprozesse.
Der Beitrag von Evi Agostini, Agnes Bube (Leibniz Universität Hannover) und Gabriele Rathgeb (Päda- gogische Hochschule Tirol) widmete sich den Weisen des Affiziertwerdens, das sie im Rekurs auf Bernhard Waldenfels im Sinne einer Flaschenpost als Brief ohne Absender beschreiben. Dieses Bild verweist darauf, dass das, was uns affiziert und worauf wir antworten, keinen eindeutigen Absender hat und aus der Fremde kommt. Ausgehend von einer Vignette, die im Rahmen des Workshops »Nah am Werk« mit Lehramtsstudierenden der Universität Wien im Albertina Museum entstanden ist, wurde untersucht, ob und wie sich das (Nicht-) Affiziertwerden durch Kunst bei den Betrachtenden leiblich zeigt. Die Phänomene der Ko-Affektion und Ko-Responsivität (Waldenfels) mögen erhellen, dass auch Forschende als Miterfahrende im Feld in Anspruch genommen und in Mitleidenschaft gezogen werden, ein Geschehen, das Vignettenschreiber*innen beim Ver- fassen der Texte nutzen. Abschließend verwiesen die Forscherinnen auf das Potenzial von Vignetten, »das (leibliche) Affiziertwerden von Kunst zu vergegenwär- tigen. Sie können gerade die sinnlich-leiblichen Phäno- mene der Wahrnehmung aufzeigen.«
Diversität, Inklusion und forschungsorientierte Diagnostik
Tobias Loemke untersuchte in seinem Beitrag das Po- tenzial von Vignetten und Erinnerungsbildern für die Kunsttherapieausbildung. Studierende, die kunstthe- rapeutische Präventionsprogramme an Schulen durch- führen, verfassen im Rückblick Erinnerungsbilder, als Beobachtende von kunsttherapeutischen oder kunst- pädagogischen Interaktionen schreiben sie Vignetten. Anhand eines Erinnerungsbilds einer Masterstudentin, das im Zuge der Arbeit mit schwer traumatisierten jesidischen Opfern des IS aus dem Nordirak in einer betreuten Wohngruppe entstand, wurde nicht nur die Er- fahrungsträchtigkeit dieser Textform auf eindrückliche
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