Nichtmenschliche Ästhetik und Kuratieren jenseits des Menschlichen
Nonhuman Aesthetics and Curating Beyond the Human.
Konferenz an der Kunstakademie Münster, 11. und 12. November 2022
Organisation: Prof. Dr. Jessica Ullrich
Die Konferenz verband aktuelle Diskurse um nichtmenschliche oder mehr-als-menschliche Akteure in ästhetischen Prozessen mit der ebenfalls derzeit virulenten Debatte um „Care“ bzw. Fürsorgeethik in der Kunst.
Es wurde nach den Bedingungen, Modi und Konsequenzen einer nichtmenschlichen Ästhetik gefragt und danach, in welcher Form Tiere, Pflanzen, Pilze, Mikroben, Bakterien, Maschinen oder künstliche Intelligenzen im Rahmen von Kunstwerken handeln. Die Vorträge haben beleuchtet, wie Künstler*innen mit nichtmenschlichen Entitäten im Rahmen von performativen oder installativen Kunstwerken interagieren und wie sie füreinander sorgen und füreinander verantwortlich sind.
Zur theoretischen Einbindung
Zeitgenössische natur- wie kulturwissenschaftliche Forschung hinterfragt nicht nur die ontologische und epistemische Grenzziehung zwischen "dem Menschen" und allen anderen Akteuren, sondern zugleich den Herrschaftsanspruch der Menschen, der sich aus einem überholten Kultur-Natur-Dualismus nährt. Auch materiell wird die klare Unterscheidung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen (pflanzlichen, tierlichen, technischen) Körpern durch Entwicklungen u.a. der Xenotransplantation, Gentechnologie, Mikrobiologie und Robotik (Bendel 2016, Loh 2019, Zellinger 2021) immer schwieriger.
In jüngster Zeit stellen daher immer mehr Künstler*innen die Kollaboration mit nicht-menschlichen Entitäten in den Mittelpunkt ihres Schaffens und behaupten nicht nur deren Wirk-, sondern auch deren Handlungsmacht, also deren „Agency“.
Mit dem Leitbegriff „Agency“ wird dabei die Fähigkeit beschrieben, Entscheidungen zu treffen und diese Entscheidungen in der Welt umzusetzen. Agency wird in der Regel im Gegensatz zu einem naturgesetzlichen Determinismus gesehen, unterscheidet sich aber auch vom klassischen Konzept des freien Willens, das davon ausgeht, dass ein souveränes und rationales Subjekt agiert. Der Begriff der Agency wird sowohl in den Gender Studies (Broude/Garrad 1982) als auch in den Postcolonial Studies (Bignall 2010) verwendet, um die Handlungsfähigkeit bzw. die Wirkungsmacht von nicht-männlichen oder nicht-weißen Menschen zu beschreiben. Die Animal Studies (Baker 2000, Haraway 2007, Wirth et. al 2015, Ullrich 2016, Gruen 2018, Ullrich 2022) und die Critical Plant Studies (Irigaray/Mader 2016, Aloi 2018, Brits/Gibson 2018, Coccia 2020, Gagliano 2021) haben den Begriff ebenfalls adaptiert, während die Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007) oder der New Materialism (Barad 2007, Salter 2015, Bakke 2017, Bennett 2020, Hauser/Strecker 2020, Rauterberg 2021) selbst der unbelebten Materie Agency zuspricht. Doch selbst wenn man akzeptiert, dass nichtmenschliche Wesen über Agency verfügen, sagt das noch nicht viel über die spezifischen Ausformungen dieser Handlungsmacht in künstlerischen Prozessen aus. Die Konferenz soll daher die Potentiale des Agency-Begriffs für die Kunst ausloten und dabei Phänomene, Merkmale, Modi und Typologien einer mehr-als-menschlichen Ästhetik benennen und entwickeln. Dieser Gegenstandbereich ist in der kunstwissenschaftlichen Forschungslandschaft bisher noch wenig entwickelt, gewinnt aber international zunehmend an Fahrt. Das findet z.B. ganz aktuell seinen Ausdruck in internationalen Konferenzen wie „Re-Thinking Agency. Non-anthropocentric Approaches (Februar 2022) an der Universität Warschau, „Nonhuman Artists“ an der University of Toronto (März 2022), „Resonance of Rhythm. On the Collaboration of Artists and Non-human Partners” (Juni 2022) an der Université de Strasbourg, „Articulations of the Nonhuman Turn in Theory, Literature, and the Arts“ an der Universität Göttingen (Juni 2022), “Sym:Bio:Fiction” im Rahmen des Kassler Dokumentar- und Videofilmfests (November 2022) und „Exhibiting Animals. Curatorial Strategies and Narratives“ (November 2022) an der Universität Warschau, die verwandte Themen behandeln.
Die meisten an die Kunstakademie Münster eingeladenen Vortragenden sind Kunstwissenschaftlerinnen, die eigene Erfahrung mit dem Kuratieren von Ausstellungen mit nichtmenschlichen Akteuren haben oder in eigenen Projekten aus dem Bereich der künstlerischen Forschung mit nichtmenschlichen Akteuren arbeiten. Es werden deshalb nicht nur Aspekte einer nichtmenschlichen Ästhetik zur Sprache kommen, die eine autonome oder humane Ästhetik flankiert und ergänzt, sondern auch ethische Fragen, die den Umgang mit mehr-als-menschlichen Wesen betreffen.
Hier erweist sich die Care-Ethik als besonders anschlussfähig. Die amerikanische Psychologin Carol Gilligan konzipierte bereits in den 1980er Jahren mit Ethics of Care eine weiblich konnotierte Richtung der Moralphilosophie (Gilligan 1982), die besonderen Wert auf die Beziehungen von Individuen legt und sich von einer eher männlich besetzten Moralkonzeption, die Rechtsansprüche gegeneinander abwägt, abgrenzt. Die Vorannahmen von Gilligan sind zu Recht als essentialistisch kritisiert worden (Adams/Gruen 2014), ebenso wie die Fallstricke einer naiven Begeisterung für Fürsorgeversprechen entlarvt wurden (Ndikung 2021). Doch in einer aktualisierten Form wird das Sorgekonzept seit einigen Jahren wieder verstärkt in den Künsten rezipiert (Brandl/Zenker 2019, van Tuinen/Brouwer 2019, Miller/Coombs 2022) und hat insbesondere durch die Corona-Pandemie erneuten Aufwind bekommen. Care wird dabei nicht nur als abstrakte Theorie verstanden, sondern vor allem als Haltung, Praxis und Arbeit (Puig della Bellacasa 2017, van Dooren/Chrulew 2022). Auch künstlerische und vor allem kuratorische Arbeit ist eine Form der Fürsorgearbeit. Das ergibt sich schon aus der etymologischen Herleitung von „curare“ in der Bedeutung von „sorgen“, „sich kümmern“, worauf verschiedentlich hingewiesen wurde (Bismarck/Meyer-Karamer 2015, Reilly 2018, Muller/Langill 2021).
Dabei werden in den Kunstwissenschaften bislang jedoch nur vereinzelt die besonderen Herausforderungen und Verantwortlichkeiten gegenüber nichtmenschlichen „Künstler*innen“ thematisiert (Ullrich 2014, Aloi 2017, Bekirovic/Marder 2020, Endt-Jones 2020, Despret 2021, Coleman et al. 2021). Tiere, Pflanzen, Bakterien, aber auch Maschinen oder KIs benötigen eine besondere, jeweils spezifische Form der Fürsorge. Nur wenn Künstler*innen, Kurator*innen und Kunstwissenschaftler*innen sich ihrer Verantwortlichkeit gegenüber mehr-als-menschlichen Akteuren bewusst sind, können diese in kollaborativen Praktiken ihr volles Potential entfalten, so dass ihr Einbezug in künstlerische Prozesse über bloße Aneignung hinausgeht.
In der Konferenz sollen auch diese Aspekte diskutiert und erste Ansätze und Ideen für eine spezifische kunstbezogene Fürsorgeethik für unterschiedliche nichtmenschliche Akteure entwickelt werden. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei „neue Arten von Beziehungen, die sich aus nichthierarchischen Allianzen, symbiotischen Bindungen und der Vermischung kreativer Agenten ergeben“ (Kirksey/Helmreich 2010). Dies wiederum schließt nicht zuletzt das Hinterfragen tradierter Wissensordnungen und die Entwicklung von Methoden ein, die auf inter- und transdisziplinäre Ansätze setzen, mit denen auch Theorien und Praktiken neue Relationen eingehen können.
Gemeinsames Bezugsfeld aller Vortragenden ist der Kritische Posthumanismus, der gängige Vorstellungen von anthropologischer Differenz und menschlichem Exzeptionalismus hinterfragt (vgl. Haraway 2018, Ferrando 2020, Braidotti 2021, McHugh/Aloi 2021, Wolfe 2022). Dabei hat die Thematik auch eine politisch-praktische Dimension. Denn wie Menschen mit anderen biologischen Organismen (z.B. Tieren, Pflanzen, Bakterien) und zunehmend intelligenten technologischen Entitäten (z.B. künstlichen Intelligenzen, Robotern) angesichts der aktuellen Krisen des Anthropozäns zukünftig leben können und sollen, ist eine der zentralen Fragen der Gegenwart.
Freitag, 11.11.2022
- 12:30 Uhr: Einführung und Begrüßung durch Jessica Ullrich
- 13:00 – 15:30 Uhr: Pflanzen (Aneta Rostkowska, Susanne Schmitt, Verena Kuni)
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- 15:00 – 16:00 Uhr: Pause
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- 16:00 – 18:30 Uhr: Nichtmenschliche Tiere (Ute Hörner, Eva Meijer, Dorota Łagodzka)
Samstag, 12.11.2022
- 9:00 – 11:00 Uhr: Mikroorganismen, Hyperobjects, Extraterrestrisches (Semâ Bekirovic, Regine Rapp, Barbara Oettl)
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- 11:00 – 11:30 Uhr: Pause
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- 11:30 – 13:30 Uhr: Algorithmen, Augmented Realities, Roboter (Ursula Ströbele, Käthe Wenzel, Julia Katharina Thiemann)
